Wahlsonntag, 22. September 2002
Dieser Tag verspricht nichts Gutes, denke ich mir als ich aus dem Fenster schaue und aus dem düster-grauen Himmel den Regen in Strippen auf den Beton plätschern sehe. Dieser pessimistische Gedanke am frühen Morgen des Wahlsonntags resultiert nicht nur aus dem sonnebrillenfeindlichen Wetter, das in Berlin seit dem Tage herrscht, seit dem ich mir eine neue Sonnebrille kaufte, sondern auch aufgrund einer bösen Vorahnung bezüglich eines späten bayrischen Triumphes im preußischen Berlin. So schnell schießen die Preußen nicht, erst mal geben sie ihre Stimme im nahen Wahllokal ab. So verschlägt es mich nach einem, der guten Laune durchaus förderlichen Frühstücks, in die nahe gelegene Grundschule, vor und in der sich schon junges und altes Wahlvolk die Klinke in die Hand gibt. Da lassen sich ein paar Minuten Wartezeit nicht verhindern und man wird Zeuge so mancher bemerkenswerten Wortwechsel zwischen wählendem Staatsbürger und Wahlhelfer, letzterer meist in der Gestalt eines Lehrers. Zwei alte Herrschaften, die die Blüte ihres Lebens auch seit einigen Dekaden hinter sich gelassen haben, fauchen im Vorbeigehen einen dafür bereitstehenden Wahlhelfer an, dass man ruhig auf dem Zwischenpodest der Treppe einen Stuhl hätte aufstellen können, es sei doch jedes mal das selbe, dass der dort fehle. Einige Gesprächsfetzen zwischen einer betagte Dame und einer Wahlhelferin erregen dann meine Aufmerksamkeit. Die weißhaarige Alte spricht im kritischen Ton, dass sie nicht aus Überzeugung wähle, sondern aus anderen Gründen. Sie trage schließlich nicht die Verantwortung, sie könne ja schließlich nichts dafür. Ein bekanntes Argument denke ich mir, doch es geht weiter. Wie könne man so jemanden zum Freund haben? Jemandem, der auf uns Bomben geworfen habe? Nein, gas gehe doch nicht! Doch die Drehung der Alten zur Tür hin, die ihr Gehen einleiten und das Gespräch beenden sollte, wurde nach diesem Satz von der Lehrerin durch eine freundliche, aber bestimmte Handbewegung unterbrochen und es folgte eine kleine Anmerkung ihrerseits. Man dürfe nicht vergessen, wer die Bomben zuerst geworfen hat! Ich verlasse das Wahllokal und trete hinaus in den Regen.
kyniker
kyniker
viasion - 22. Mai, 10:18
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