Donnerstag, 16. November 2006

Textgärtner auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Jüngst trafen sich die Mitglieder der Projektgruppe Textgarten, um gemeinsam eine Geschichte zu verfassen. Das Prinzip ist ganz einfach. Die Textgärtner fügten reihum jeweils einen oder mehrere Sätze hinzu, ohne dass sie letztlich wussten, welcher Satz von wem geschrieben wurde. Los ging es nicht nur mit einem beliebigen ersten Satz, sondern mit dem ersten Satz der Erzählung "Frühstück bei Tiffany" von Truman Capote:

"Es zieht mich stets dorthin zurück, wo ich einmal gelebt habe, zu den Häusern, der Gegend."

Gegenden, in denen ich schon so viele Dinge erlebte. Dort stelle ich fest, dass Zeit und Raum in der persönlichen Wahrnehmung unzertrennbar sind und sich die Gegenden, wo ich einst lebte, längst verändert haben, so wie ich mich selbst verändert habe. Diese Gegenden sind so gesehen Koordinaten meiner Lebenslinie. Und welch Paradoxon: Obwohl ich mich verändert habe, ein anderer geworden bin, und auch die Orte meiner Kindheit und Jugend sich verändert haben, also ebenso andere Orte geworden sind, erkenne ich sie wieder. Kaum bin ich dort, fühle ich mich nicht fremd, bin ich Zuhause. Obwohl ein Teil von mir stets in der anderen Welt ist und nun mich teilt.

Die Erinnerungen beschreiben das, was ich war und was meine Basis war, von der aus ich mich verändert und vielleicht entfremdet habe. Und obwohl ich mich entwurzelt fühle, weiss ich, dass ich eines Tages meinen Stamm wiederfinde. Bis dahin brauch ich nur suchen oder mich suchen lassen... Denn der, der suchet, der findet auch, habe ich mir sagen lassen. Vielleicht jedoch möchte ich meinen Stamm nicht wiederfinden bzw. dorthin zurückgelangen, wo ich einst war. Immerhin bin ich auch stolz auf dass, was ich schuf; ich bereue nichts davon und würde auch nichts anders machen, hätte ich denn die theoretische Wahl.

Nichtsdestotrotz streife ich gern um die Häuser, in denen ich einst wohnte und liebte, aß und las. Meine Fantasie fliegt dann auf und davon und ich entwerfe alternative Lebenswege, was wäre gewesen, wenn ich damals anders entschieden hätte. So tauche ich ein in die Welt der unbegrenzten Möglichkeiten: Was wäre wenn...? Tausende Fragen entstehen, neue und immer wieder neue. Dann wird es Zeit zurückzukehren zur Realität und ich bin froh in der alten Heimat zu sein und darüber nachdenken zu können.

Schau mal da rüber, da spielte ich früher. Inzwischen eingestaubt und belaubt, steht der Spielplatz noch, obwohl man‘s nicht glaubt. Kann ich gleich mal meinen Müll drauf entsorgen, im Sandkasten. Gott ist Tod. Oder: Gott isst Toast. Ende! (9.11.2006 @ Textgarten von Viasion)

Wie ihr sehen könnt, versuchte jeder Schreiber, seinen Einfluss auf die Stilrichtung des Textes auszuüben. Die einen zeigten sich kooperativ, die anderen sabotierten fleißig diese Versuche. So wurde am Ende versucht, die anderen Textgärtner zum Reimen zu bewegen, was allerdings zu "entsorgtem Müll" führte und mit Verhunzung endete.

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